Diversität in der Musiktheorie

Ziel dieses Beitrags ist es, eine dringend notwendige Diskussion fortzusetzen: nach „Diversität“ in der Disziplin der Musiktheorie.

Obwohl der im Titel verwendete Begriff „Diversität“ als problematisch angesehen werden kann, wird er hier so verwendet wie er zumeist verstanden wird, konkret: zu verstehen wie inklusiv die Disziplin der Musiktheorie gegenüber verschiedenen Gruppen ist, sei es in Bezug zur Ethnie, Geschlecht/Gender, oder sexuellen Identität.

Zwei Thematiken können hierbei unterschieden werden, nämlich institutionell bzw. methodisch, wobei beide natürlich eng miteinander verbunden sind.

Institutionell

Als Fachgebiete wurden und werden die historische Musikwissenschaft und vor allem auch die Musiktheorie und Analyse weitgehend von weißen Männern dominiert. Dieser Mangel an Diversität oder Inklusivität wurde 2009 in einer Sonderausgabe der Musiktheoriezeitschrift Gamut untersucht, die HIER frei einzusehen ist.

Jeannie Guerreros Einleitung bespricht einige Daten der US-amerikanischen National Association of Schools of Music (NASM) und der Higher Educations Arts Data Services (HEADS), die sich auch 2007–2008 beziehen. Obwohl die Daten unvollständig sind, sich auf die USA beschränken und nun bereits mehr als ein Jahrzehnt alt sind, kann man doch annehmen, dass die Studie ein signifikantes globales Problem anzeigt, das nachwievor thematisiert werden muss. Laut dieser Studie waren weniger als 30% der Studierenden im Hauptfach Musiktheorie weiblich, während „underrepresented minorities“ (unterrepräsentierte Minderheiten, URM) 13,2% ausmachen (wovon beispielsweise 9,6% „Asian“ waren, gegenüber 1,8% „African-American“). Obwohl der Prozentsatz Frauen unter Promovierten leicht höher ausfiel (31.3%), repräsentierten URM ganze 4,2%. Bezieht man alle Promovierten in verschiedenen Musikbereichen ein, fiel die Reprärentation von URM am niedrigsten in der Musiktheorie aus, wobei der Anteil Frauen im Bereich Dirigieren und Komposition noch geringer war.

Natürlich ergibt sich daraus die Frage „warum?“. Guerrero bespricht eine Reihe von Herausforderungen, darunter:

1) Finanziell: wer „klassische“ Musik auf Hochschulebene studieren möchte, braucht entsprechende finanzielle Mittel, um sich Musikunterricht und Instrumente leisten zu können (‘To pursue Classical music in college or beyond presumes financial means to pay for music lessons and instruments’);

2) Das Fehlen oder der Mangel an Vorbildern und Mentoren;

3) Identitätspolitik, die sich selbst im Wege steht. Amy Cimini und Jairo Moreno (2009) argumentieren in derselben Zeitschrift, dass Identitätspolitik, indem sie ethnische Gruppen auseinander und im Wettbewerb zu einander hält, die andauernde Unterdrückung derselben ermöglicht. Die Autoren rufen schließlich angesichts zunehmender Verdrängung der Kultur- und Geisteswissenschaften zur Solidarität auf: „keeping ethnic groups distinct and in direct competition with one another, identity politics enables their continued suppression. With the final blows being dealt in the name of profit margins, cultural and humanistic disciplines will lose their strongholds. Whether through self-governance or collective bargaining, all affected parties need to unite“.

4) Privatisierung („Corporatization“), der Widerstand geleistet werden kann, indem sich Lehrende gewerkschaftlich organisieren, vor allem gemeinsam mit Nichtfestangestellten („adjunct faculty“), Hilfskräften („teaching assistants“) und anderen Mitarbeitern, zumal ethnische Minderheiten in diesen universitären Bereichen in der Größenordnung anzutreffen sind, die Universitäten gerne auf in der Verbeamtung sehen würden („ethnic minorities inhabit these lower ranks of university society in the numbers universities would like to see in the tenure track“).

Methodisch

In diesem Zusammenhang muss man eine häufig geäußerte Meinung ansprechen, dass nämlich Musiktheorie eine rein technische Disziplin sei, die sich ausschließlich mit musikalischer Struktur und Syntax beschäftigt – „spezifisch musikalischen“ Fragestellung sozusagen („music theory is a technical discipline, confining its attention to issues of musical structure and syntax – ‘specifically musical’ matters, as one says“, Maus 1993). Fred Maus argumentiert weiter, dass viele ganz selbstverständlich annehmen, dass solche „spezifisch musikalischen“ Fragen nichts mit Geschlecht/Gender [oder Ethnie] zu tun haben, dass sich mit Musiktheorie und Analyse befassende Schriften in der Vergangenheit aber größtenteils von [weißen] Männern geschrieben wurden und sich diese zudem meist nur mit der Musik [weißer] Männer befassten, was durchaus einen Einfluss auf die Entwicklung ihrer Theorien gehabt haben mag („[m]any people would find it natural to assume that ‘specifically musical’ matters have nothing to do with gender [or ethnicity]. But theory and analysis have been, for the most part, a set of texts written by [white] men, about music by [white] men, and perhaps this has had some effect on the outcome“, meine Zusätze).

Guerrero erwähnt methodische Meinungsverschiedenheiten als eine der Herausforderungen zur Diversität in der Musiktheorie, da die Wissensbasis innerhalb des Faches in seiner gegenwärtigen Form tiefgreifende Studien von Musik außerhalb des Kanons ausschließt („[t]he knowledge base within the field as it exists now precludes meaningful studies of non-canonic repertoires“). Mit anderen Worten befördert das ausschließliche Studium kanonischer (also „toter, männlicher, europäischer“) Komponisten, ohne Anerkennung dieser Einschränkung und der damit verbundenen Problematik, zur andauernden Marginalisierung der Musik und Ideen anderer Zusammenhänge (seien sie in Bezug auf Geschlecht/Gender oder kultureller Unterschiede). In diesem Sinne ähnelt das Ignorieren gesellschaftlicher Aspekte von Musik sehr dem Ignorieren aktuell existierendem Rassismus und Ungleichheit: es nützt lediglich denjenigen am oberen Ende der Hierarchie der Macht (politisch, ökonomisch, usw.).

Allerdings, schreibt Sumanth Gopinath (2009), löst die Ergänzung traditioneller Theoriekurse mit Weltmusik nicht allein das Problem („supplementing traditional theory courses with world-music material does not solve the problem in itself“). Stattdessen argumentiert Gopinath für die Untersuchung der Harmonik als kolonisierender Kraft durch die Geschichte hinweg („harmony as a colonizing force throughout history“). So ist der Großteil globaler Popularmusik undenkbar ohne die beiden Faktoren Kolonialismus und Globalisierung, ebenso wie, beispielsweise, traditionelle geistliche Chormusik der Xhosa – die größtenteils auf den Akkorden I, IV und V (Tonika, Subdominante, Dominante) basiert, denselben Akkorden, die uns aus zentraleuropäischer Volksmusik geläufig sind.

Sollen wir also aufhören, unseren Fokus auf tote europäische Komponisten zu legen? Nicht unbedingt; es gibt viele Gründe, von einer Dufay-Motette fasziniert zu sein, oder von einer Purcell-Suite oder einer Sinfonie von Albrechtsberger oder gar Beethoven. Doch auch wenn das unserer Spezialgebiet ist, gibt es keinen guten Grund, Komponisten wie den Portugiesen und auch Theoretiker Vicente Lusitano (16. Jahrhundert) zu ignorieren, oder den wesentlich bekannteren George Bridgetower (1778–1860), oder die vielen Komponistinnen von Hildegard von Bingen bis Clara Schumann (um nur zwei berühmte Namen zu nennen). Sie willentlich zu ignorieren, schadet nicht nur gegenwärtigen Komponistinnen und Komponisten (die nach Vorbildern außerhalb des „weißen, männlichen“ Kanons suchen könnten), aber auch anderen Musiker/innen und Wissenschaftler/innen, uns eingeschlossen. Diversität oder Inklusivität macht uns reicher, nicht ärmer.

Die dunkle Geschichte der deutschen Musiktheorie

Um zu betonen, dass es sich nicht nur um ein US-amerikanisches Problem handelt, mag es sinnvoll sein, auf einen Artikel von Ludwig Holtmeier (2003 / 2004) zu verweisen, der die Tradition des Faches in Deutschland und Österreich im 20. Jahrhundert bespricht und argumentiert, dass die Komplizenschaft im Naziregime durch die Gründer der Nachkriegs-Musiktheorie bzw. des Tonsatz bisher nur ungenügend behandelt wurde. Wiederum hatten institutionelle Einseitigkeit und offener Rassismus (im Falle Deutschlands, der Entfernung jeglicher als jüdisch oder „entartet“ gebranntmarkter Musik) einen Einfluss auf die Methodik, und zwar nicht nur im Gegenstand (deutscher Volkslieder), sondern auch in der Art und Weise der Untersuchung. Ironischerweise waren die Theorien Heinrich Schenkers – des „Gründervaters“ der in den USA noch sehr einflussreichen, in der deutschen Musiktheorie aber weitgehend irrelevanten Schenkerian analysis – trotz seines Judentums tief im deutschen Nationalismus verwurzelt und (wenngleich nicht ungewöhnlich für die Zeit) äußerst parteiisch gegenüber des tonalen Kernrepertoires von ca. 1780 bis 1830, soweit, dass Musik, die nicht zu seinen Theorien passte, als weniger Wert eingeschätzt wurde (Botstein 2004).

Ich bin wirklich gespannt, was andere Leute denken, sowohl in Bezug auf die angesprochenen Punkte, aber auch zum größeren Zusammenhang, also kommentieren Sie bitte unten! Natürlich bleibt eine Debatte ohne Taten nur eine Debatte. Sie kann daher nur ein Schritt in die richtige Richtung sein, aber ein wichtiger.

Abbildung: George Bridgetower, von Henry Edridge, 1790 (zugeschnitten)
Literaturhinweise:

Botstein, Leon (2004): „Schenker the Regressive: Observations on the Historical Schenker“, The Musical Quarterly, 86(2), S. 239–47.

Cimini, Amy und Jairo Moreno (2009): „On Diversity“, Gamut, 2(1); HIER einsehbar.

Gopinath, Sumanth (2009): „Diversity, Music Theory, and the Neoliberal Academy“, Gamut, 2(1); HIER einsehbar.

Guerrero, Jeannie Ma (2009): „Inconvenient Truths, and Changes to Believe In“, Gamut, 2(1); HIER einsehbar.

Holtmeier, Ludwig (2003): „Von der Musiktheorie zum Tonsatz: Zur Geschichte eines geschichtslosen Faches“, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie, 1(1), S. 11–34; HIER einsehbar.

Holtmeier, Ludwig (2004): „From ‘Musiktheorie’ to ‘Tonsatz’: National Socialism and German Music Theory after 1945“, Music Analysis, 23 (2–3), S. 245–66.

Maus, Fred (1993): „Masculine Discourse in Music Theory“, Perspectives of New Music, 31 (2), S. 264–93.

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