Gedanken zur transkulturellen Musiktheorie

Vor Kurzem bin ich auf das Konzept der Transkulturalität gestoßen und habe dies zum Anlass genommen, mir ein paar Gedanken zu dessen Anwendung auf musiktheoretische und -wissenschaftliche Forschung und Lehre zu machen.

Vorab möchte ich jedoch erklären, warum es in den vergangenen 15 Monaten in diesem Blog so still war. Anfang August 2022 wurde bei mir metastasierender Darmkrebs diagnostiziert. Seitdem ist es eine Achterbahnfahrt, einschließlich dreier Operationen, Chemotherapie, Strahlentherapie, aber auch Phasen, in denen ich ein Stück weit zur Normalität zurückkehren konnte. In dieser Zeit habe ich mich, soweit möglich, auf meine Unterrichtstätigkeit als Vertretungsprofessor in Dresden konzentriert, sowie natürlich auf meine Genesung.

Transkulturelle Musiktheorie ist ein spannendes und meiner Kenntnis nach recht neues Arbeitsfeld, wenngleich Christensen 2018 bereits in diese Richtung weist. Insbesondere zu einer Zeit, zu der wieder vermehrt Abgrenzungversuche zwischen vermeintlich inkompatiblen Kulturen unternommen werden, diese Versuche sich aber zunehmend im Widerspruch zur Lebenswirklichkeit vieler Menschen bewegen, wird das Verständnis der Vielschichtigkeit individueller soziokultureller Zugehörigkeitsgefühle und Praktiken immer wichtiger. Als Beispiel seien die 2021 in Deutschland erfassten 22,3 Millionen „Menschen mit Migrationshintergrund“ genannt, von denen 49% „zu Hause sowohl Deutsch als auch (mindestens) eine weitere Sprache“ sprechen (Statistisches Bundesamt 12.04.2022). Als im konfliktgeladenen Südafrika der Spät- und Post-Apartheid privilegiert und mehrsprachig aufgewachsenen weißem Cis-Mann mit deutschen Wurzeln, der außerdem mehrere Jahre in Großbritannien lebte und dessen Ehemann ihn als auf drei Kontinenten aufgewachsenen person of color mit seinem transkulturellen Erfahrungsschatz maßgeblich bereichert, befinde ich mich selbst täglich in einem Lern- und Austauschprozess mit unterschiedlichen kulturellen Gepflogenheiten und Sichtweisen. Letztlich halte ich in der Lehre und im Umgang mit einer zunehmend diverseren und diversitätsbewussten Studierendenschaft solch gelebte Erfahrungshorizonte für ähnlich wichtig wie theoretisches Wissen um die Besonderheiten transkultureller Erfahrungen.

Transkulturelle Musiktheorie würde ich zunächst auf zwei Achsen verorten: zwischen den Polen Musik (gehört, gespielt, auch notiert) und Theorie einerseits, sowie zwischen den Polen „kulturspezifisch“ und „kulturübergreifend“ andererseits. Lag musiktheoretischer Forschung und Lehre bis ins späte 20. Jahrhundert meist ein expliziter oder impliziter universalistischer d.h. kulturübergreifender Anspruch zu Grunde, stehen in den letzten 30 bis 40 Jahren vermehrt kulturspezifische und „historisch informierte“ Untersuchungen im Fokus – so auch in meiner Dissertation, in der ich etwa für die Musik des späten 17. Jahrhunderts anachronistische Begriffe wie „major“ und „minor“ weitgehend vermied (Schönlau 2019, S. 35). Inzwischen werden gerade in Bezug auf transkulturelle Musikforschung vermehrt Überlegungen geäußert, wie man nicht nur europäische Kunstmusik verschiedener Jahrhunderte, sondern auch Musik geografisch sehr weit auseinanderliegender Weltregionen gewinnbringend auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede untersuchen könne, und zwar möglichst ohne präexistente normative Vorstellungen (siehe etwa van den Toorn 2017). Dabei ist es meines Erachtens auch kaum vermeidbar, im Unterricht bzw. in der Forschung auch Musik zu analysieren, die dem persönlichen Geschmack bzw. Werturteil zuwiderläuft. Dies war eine Grundprämisse meiner Dissertation, in der mich weniger die Musik interessierte, die heute Wertschätzung erfährt, da dies den Blick darauf verstellen kann, was etwa im London des späten 17. Jahrhunderts Wertschätzung erfuhr und warum.

Zur Veranschaulichung der beiden genannten Achsen seien noch zwei Unterrichtsszenarien knapp skizziert, die auf unterschiedliche Art und Weise transkulturelle Musiktheorie in die Lehre an einer deutschen Musikhochschule einbeziehen: In einem Seminar zur Geschichte der Musiktheorie wird der Fokus auf Vergleiche zwischen verschiedenen Traditionen der Musiktheorie gelegt, die teilweise wenig nachweisbare Berührungspunkte hatten. Der Fokus liegt hier klar auf der Theorie, bewegt sich aber fließend auf der Achse kulturspezifisch / kulturübergreifend. Während etwa die Schriften Abū Nasr Muhammad al-Fārābīs (ca. 870–950) durch seine Rezeption antiker Musiktheorie von Griechenland bis Indien Verbindungen auch zur mittelalterlichen europäischen Musiktheorie erlauben (innerhalb derer die Theorien des „Alpharabius“ durch Übersetzungen ins Lateinische und Hebräische teilweise bekannt waren) und damit das Herausarbeiten von Gemeinsamkeiten beinahe auf der Hand liegt, ist dies bei der Einbeziehung beispielsweise antiker chinesischer Musiktheorie deutlich schwieriger, nicht zuletzt aufgrund der Übersetzungsproblematik, die hier aufgrund zeitlicher und sprachlich-kultureller Distanz wesentlich deutlicher ausgeprägt scheint. Nichtzuletzt aufgrund der oftmals fehlenden Übersetzungen der Originalquellen ins Deutsche oder Englische ist jedoch auch der Zugang zu den Schriften al-Fārābīs erschwert, weshalb ich mich besonders glücklich schätze, dass in meinem im Wintersemester 2021/22 an der Hochschule für Künste Bremen angebotenen Seminar „Geschichte der Musiktheorie“ eine aus dem Iran stammende Studierende anbot, sich im Rahmen eines Referates dem Thema al-Fārābī anzunehmen. Solch kollaborative Unterrichtsformate, in denen auch Studierende Verantwortung für Unterrichtsinhalte übernehmen, können durchaus gewinnbringend sein und Studierenden dazu motivieren, selbst über diese Inhalte hinaus sich mit dem Thema zu beschäftigen. In jedem Fall erscheint es wünschenswert, sich von einer artifiziell stringenten Erzählung vermeintlich gradliniger Traditionsstränge von Boethius bis Schönberg, die weder historischen noch aktuellen Begebenheiten Rechnung trägt, loszusagen, auch wenn alternative Herangehensweisen vergleichsweise chaotisch und multidirektional wirken müssen (vgl. Rehding 2020).

Als zweites Szenario soll im Harmonielehre- und Gehörbildungsunterricht in die für das 17. und frühe 18. Jahrhundert zentrale Kompositionstechnik des Basso ostinato eingeführt werden, die sich wunderbar dazu eignet, den Übergang von der noch-modalen Tonhöhenorganisation des späten 16. Jahrhunderts zur Dur-Moll-Tonalität der Wiener Klassik zu durchleuchten. Die besagte Technik wurde nicht zuletzt als Konstruktionsprinzip eingesetzt, um ohne Durchimitation und / oder Gesangstext längere Musikstücke zu komponieren, wurde aber dann weitgehend aufgegeben, als das starre Wiederholungsprinzip den neuentdeckten Möglichkeiten, Musik durch Tonartenkontraste zu strukturieren, zunehmend im Wege zu stehen schien (Schönlau 2019, S. 132–38; bezeichnenderweise erlebte die Technik im Zuge des Historismus und der zunehmenden Ausweitung und Aufweichung der Dur-Moll-Tonalität gegen Ende des 19. Jahrhundert eine gewisse Renaissance).

Gleichzeitig sollen Verbindungen zu Musik aus anderen Weltregionen aufgezeigt werden, die zu unterschiedlichen Graden (direkt oder indirekt) von europäischer Kunstmusik beeinflusst wurden. So kann man in den die südafrikanische Gospelmusik dominierenden I-IV-V-I-Ostinati (siehe etwa den Song und das Album Mbulali Wami von Maria le Maria), unter anderem die Verbindung des rhythmisch-melodischen Ostinato, eines auch in „traditioneller“ Musik verschiedener afrikanischer Musikkulturen stark verbreiteten Kompositionsprinzips, mit dem starken (auch unter Zwang stattgefundenen) Einfluss simpler dur-moll-tonaler Kirchenlieder der europäischen Kolonisatoren und Missionare erkennen (vgl. Agawu 2006). Das starke Machtgefälle in diesem kulturellen Anpassungsprozess ließe sich gut mit dem Konzept der in kolonialen und postkolonialen Gesellschaften verbreiteten „transculturation“ beschreiben, der sich von der positiver gewerteten „transculturality“ im Zuge der Globalisierung unterscheidet (Benessaieh 2010, S. 16–17). Am Beispiel György Ligetis, der sich ab der 1980er Jahre unter anderem von ostinaten Strukturen in der Musik verschiedener Kulturen des zentralen und südlichen Afrikas hat inspirieren lassen, ließe sich die Tendenz problematisieren, dass Musik aus anderen Weltregionen oft nur durch die Brille europäischer Kunstmusik thematisiert wird – etwa „wir beschäftigen uns mit zentralafrikanischer Musik nicht um ihrer selbst willen, sondern weil sie für Ligeti wichtig war“ (siehe Martin Scherzinger 2006). Diese Problematik sollte zum Anlass genommen werden, auch Repertoires mit wenigen bis keinen (nachweisbaren) Berührungspunkten zu analysieren und zu vergleichen. Zwar läge der Fokus dieser Unterrichtseinheiten stärker auf der Musik, könnte aber auch Theoriebildung dezidiert miteinbeziehen. So ließen sich im weiteren Verlauf Unterschiede und Gemeinsamkeiten verschiedener tonaler Systeme („tonal“ im erweiterten Sinne) aufzeigen – etwa des Rāga-Systems indischer klassischer Musik, der Tonhöhenorganisation verschiedener westafrikanischer Musiken (siehe Agawu 2006, S. 342–345) oder der traditionellen Vokalpolyphonie Georgiens – um wiederum den Blick auf die Entwicklung der Dur-Moll-Tonalität zu schärfen.

Zitierte Literatur

Agawu, Kofi (2006): „Tonality as a Colonizing Force in Africa“, in Ronald Radano und Tejumola Olaniyan (hrsg.), Audible Emire: Music, Global Politics, Critique (Durham, NC), S. 334–355.

Benessaieh, Afef (2010): „Multiculturalism, Interculturality, Transculturality“, in dieselbe (hrsg.), Amériques transculturelles – Transcultural Americas (Ottawa), S. 11–38.

Christensen, Thomas (2018): „Music Theory, Cultural Transfer, and Colonial Hybridity“, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 15/2, S. 15–21; https://www.gmth.de/zeitschrift/artikel/990.aspx (zuletzt aufgerufen am 24.08.2023).

Rehding, Alexander (2020): „Can the History of Music Theory be Decentered?“, Blog der History of Music Theory SMT Interest Group & AMS Study Group, 03.04.2020; https://historyofmusictheory.wordpress.com/2020/04/03/can-the-history-of-theory-be-decentered-part-i-prequel-five-classics/ (zuletzt abgerufen am 08.06.2023).

Scherzinger, Martin (2006): „György Ligeti and the Aka Pygmies Project“, Contemporary Music Review 25 (2006), S. 227–262.

Schönlau, Stephan (2019): „Creative Approaches to Ground-Bass Composition in England, c.1675–c.1705“, Dissertation, University of Manchester: https://pure.manchester.ac.uk/ws/portalfiles/portal/151701981/full_text.pdf (zuletzt abgerufen am 24.08.2023).

Statistisches Bundesamt (12.04.2022): „Gut jede vierte Person in Deutschland hatte 2021 einen Migrationshintergrund“, Pressemitteilung Nr. 162: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/04/PD22_162_125.html (zuletzt abgerufen am 14.06.2023).

van den Toorn, Pieter C. (2017): „The Rite of Spring Briefly Revisited: Thoughts on Stravinsky’s Stratifications, the Psychology of Meter, and African Polyrhythm,“ Music Theory Spectrum 39, S. 158–181.

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