Komponisten gegen Theoretiker? Bezeichnet vii°6 einen Dominantseptakkord ohne Grundton?

Wie wurde ein Sextakkord auf der 2. Tonleiterstufe im Bass Mitte des 18. Jahrhunderts verstanden und wie beeinflusste das die Stimmführung?
Beispiel 1: Johann Philipp Kirnberger, Die Kunst des reinen Satzes in der Musik, Bd. 1 (Berlin/Königsberg, 1774), S. 69 [meine Zusätze umrandet].

Nehmen Sie eine C-Dur-Tonleiter: wie würde diese am besten harmonisiert werden, wenn es keine Melodie zu beachten gibt? Theoretiker des 18. Jahrhunderts waren sich relativ einig in Bezug auf die sogenannte Oktavregel, aber es gab Unterschiede darin, wie die 2. Tonleiterstufe (das D) zu behandeln sei. In jedem Fall wurde eine Terz (F) und eine Sexte (H) über dem Bass verlangt (Beispiel 1 oben), aber manchmal (besonders in der 2. Jahrhunderthälfte) wurde die Quarte (G) hinzugefügt, wodurch ein Akkord entsteht, der von heutigen Theoretikern als Dominantsept in 2. Umkehrung (V4/3) gesehen wird (Beispiel 2 unten).

Beispiel 2: Johann Philipp Kirnberger, Die Kunst des reinen Satzes in der Musik, Bd. 1 (Berlin/Königsberg, 1774), S. 70 [meine Zusätze umrandet].

Was aber mit den vielen Fällen (in der Theorie und in der Musik) wo die Quarte weggelassen wurde? In der Stufenlehre würde dieser Akkord meist als vii°6 bezeichnet werden, nach der Funktionstheorie wird er aber meist als verkürzter Dominantsept in 2. Umkehrung, also mit fehlendem Grundton, verstanden. Das Problem mit dieser Sichtweise wird deutlich, wenn man die im 18. Jahrhundert üblichen Prinzipien der Stimmführung bedenkt. Eines dieser Prinzipien ist, dass die SEPTIM sich immer abwärts auflösen sollte, wie im Beispiel 2; dies ist aber nicht der Fall im Beispiel 1.

Wenn Sie meinen, Beispiel 1 sei einfach falsch: naja, es stammt von einem Traktat von Johann Philip Kirnberger, der Schüler von keinem Geringeren als Johann Sebastian Bach war. Kirnberger sieht den Ursprung des Akkordes im "Septimen-Accord", schafft es aber nicht ganz zu erklären, warum das F oft steigt, sondern sagt lediglich, dass dem letzte Akkord ansonsten das G fehlen würde.

Die andere "Regel", die oft gebrochen wird, ist dass die Septime (wenn man sie hier als solche versteht) nicht verdoppelt werden soll. Es gibt viele solche Beispiele in Bachs Choralsätzen, Beispiel 3 (unten) stammt aber von einem weiteren wichtigen Traktat, von Johann David Heinichen. Diese zeigt, dass entweder der Basston (D) oder die Terz darüber (F) verdoppelt werden kann, nur nicht die Sexte (H), "wegen übellautes", wie Bach selbst in seinen Generalbassregeln schrieb (Beispiel 4 unten). Der Grund ist, dass die Sexte der Leitton ist, der in Akkorden mit dominantischer Funktion generell nicht verdoppelt wird.

Beispiel 3: Johann David Heinichen, Der Generalbass in der Composition, Bd. 1 (Dresden, 1728), S. 147 [meine Zusätze umrandet].
Beispiel 4 (Faksimile): Johann Sebastian Bach, „Einige Reguln vom General Bass“ (ca. 1725–1734), Anhang zum Klavierbüchlein für Anna Magdalena Bach (1725), Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Mus.ms. Bach P225 (45), S. 125 [Ausschnitt].

Es sollte nun bereits deutlich sein, dass ich beide Fragen mit "Nein" beantworten würde. Theoretiker der Zeit folgten der durch Komponisten vorgegebenen Praxis und taten ihr Bestes, zu erklären warum Akkorde auf bestimmte Art und Weise verwendet wurden. Auch gab es kaum eine Unterscheidung zwischen beiden Gruppen: manche Komponisten schrieben Traktate und Theoretiker komponierten meist auch. Heinichen war ein recht bedeutender Komponist und wie bereits angedeutet, hat Bach selbst theoretische Schriften hinterlassen, wenn auch recht elementare.

Bei der 2. Frage ist es wichtig, zwischen Akkord und Funktion zu unterscheiden. Während der 6/3-Akkord auf der 2. Tonleiterstufe durchaus als vii°6 bezeichnet werden kann, ist seine Funktion der einer Dominante. Trotzdem gibt es im Beispiel 1 keine Dissonanz im engeren Sinne, daher ist es einfach nicht sehr hilfreich, von einem verkürzten Septakkord in 2. Umkehrung auszugehen.

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