Tonale Implikationen und Auflösungsverlangen im Spätwerk Skriabins

Die zwei Klavierstücke op. 57 von Alexander Skriabin (1908 komponiert) stehen am Übergang der Dur-Moll-Tonalität zur posttonalen Musik seiner späten Werke.

Trotz mehrerer geradezu klassischer Ganzschlüsse – vor allem im zweiten Stück „Caresse dansée“ – klingen weite Passagen kaum noch tonal. Trotzdem wird die Harmonik durch ein an der tonalen Musik entwickeltes Auflösungsstreben vorangetrieben. Ich versuche hier anschaulich zu machen, wie dieses Gefühl harmonischer Fortschreitung anhand der Auflösungtendenz der Anfangsakkorde analysiert werden kann. Dabei sollte betont werden, dass diese Tendenzen in den Akkorden immer als mehrdeutig aufzufassen sind: Der Anfangsakkord kann in mehrere Richtungen aufgelöst werden, aber eben nicht in jede beliebige. Die Stimmführung unterstreicht teilweise die Auflösung, ist aber in Kombination mit der Fortschreitung des Akkordgrundtones zu verstehen.

Beispiel 1 zeigt den Beginn von „Désir“ (HIER ANHÖREN) und darunter eine Reduktion. Bei A, B, C und D werden schließlich mehrere harmonische Interpretationen derselben Akkorde vorgestellt. Wird der erste Basston C als Grundton aufgefasst (Beispiel 1A), ist das E als Terz, das Fis als tiefalterierte Quinte (Ges) und das B als dominantische Septime aufzufassen. Genauso könnte jedoch das Fis Grundton sein (Beispiel 1B), das Ais Terz, das C die tiefalterierte Quinte und das E die dominantische Septime. Beide Akkorde sind identisch gebaut, lediglich die Verteilung der Töne ist anders.

Beispiel 1: Auflösungsimplikationen zu Beginn von Skriabins „Désir“ op. 57 Nr. 1

Wie Kenneth Smith betont, sind die meist auf Septakkorde zurückzuführenden Klänge in Skriabins Musik dieser Zeit praktisch immer dominantisch aufzufassen (Smith 2010). Daher ist die naheliegendste Auflösung stets der als Quintfall zwischen den Akkordgrundtönen („authentische“ Auflösung), auch wenn der darauffolgende Akkorde selten als (konsonante) Tonika wirkt. Diese „authentische“ Auflösung findet im Beispiel 1A nur vom 2. zum 3. Akkord statt, während bei 1B der Sekundschritt aufwärts zwischen den Grundtönen vom 1. zum 2. Akkord als trugschlüssige Auflösung verstanden werden kann.

Es gibt aber noch zwei Alternativen (Beispiele 1C und 1D). Diese mögen zunächst abwegig erscheinen, erklingt doch der Grundton D bzw. As gar nicht im Akkord. Allerdings ist dies kein unbekanntes Phänomen: so wird beispielsweise der verminderte Septakkord auf dem Leitton einer Dur- oder Molltonleiter in der modernen Harmonielehre meist als Dominante (mit fehlendem Grundton) verstanden. Dieses auf Jean-Philippe Rameau zurückgehende Verständnis eines basse fondamentale, welches sich im späten 18. Jahrhundert durchzusetzen begann, ließe sich hier genauso anwenden. Damit wäre bei Beispiel 1C Fis die Terz, Ais die hochalterierte (!) Quinte, C die dominantische Septime und E die große None. Auch hier kann alternativ das im Tritonusabstand zum D stehende As als Grundton aufgefasst werden, womit sich außer der Verteilung der Töne wieder nichts an der Akkordstruktur ändert.

Alternative 1C hat den Vorteil, dass man nun vom 1. zum 2. Akkord einen Quintfall hat, während bei 1D der 2. Akkord sich zum 3. trugschlüssig auflöst. Grundsätzlich kann man natürlich auch die harmonischen Interpretationen verbinden, etwa so: 1. zum 2. Akkord als Quintfall (1C) oder Trugschluss (1B), 2. zum 3. Akkord als Quintfall (1A) oder Trugschluss (1D). Es geht natürlich nicht darum, sich die Rosinen herauszupicken; letztlich stecken alle grundsätzlich alle Möglichkeiten in diesem Beginn.

Doch worauf deutet die Stimmführung im Stück hin? Generell scheint es Skriabin an chromatischer Stimmführung und einer relativ „klassischen“ Auflösung von Akkorddissonanzen gelegen zu sein. Dennoch handelt es sich hierum eine Art Quadratur des Kreises: Bei dem favorisierten Quintfall zu Beginn (Beispiel 1C) löst sich zwar die hochalterierte Quinte Ais „richtig“ in die Terz des nächsten Akkordes auf. Das H kann in diesem Beispiel sogar anstatt des Ais als Akkordton aufgefasst werden, nämlich als sogenannter „Chopin-Akkord“ mit Sexte statt Quinte (D-Fis-H-C). Diese Deutung wird in der finalen Kadenz des zweiten Stückes wieder aufgegriffen (Beispiel 2; HIER ANHÖREN). Allerdings springt in Beispiel 1C gerade die Septime C (im Bass) ab. Ähnliche Probleme ergeben sich jedoch auch bei den anderen Varianten.

Beispiel 2: „Chopin-Akkord“ in der Schlusskadenz aus Skriabins „Caresse dansée“ op. 57 Nr. 2

Im nächsten Beitrag werde ich den Anfang des zweiten Stückes thematisieren. Dieses beginnt mit demselben Akkord, wird aber anders fortgesetzt. In der Zwischenzeit würde mich sehr interessieren, ob diese Analyse überzeugt und welche harmonische Fortschreitung Sie am ehesten hören. Oder sind die tonalen Implikationen so weit verschleiert, dass man eigentlich nur noch Klänge hört, die irgendwie (beliebig?) verbunden sind?

Zitierte Literatur

Kenneth Smith: „‘A Science of Tonal Love’? Drive and Desire in Twentieth-Century Harmony: the Erotics of Skryabin“, Music Analysis, 29 (2010), 234–63.

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