Skriabin (2): Tonale Implikationen und Auflösungsverlangen in „Caresse dansée“ op. 57/2

Im zweiten der beiden Klavierstücke op. 57 verdeutlicht Skriabin das zuvor nur implizierte mehrdeutige Auflösungsverlangen des Anfangakkordes.

Der vergangene Beitrag befasste sich mit dem ersten der beiden 1908 komponierten Klavierstücke op. 57 von Alexander Skriabin. In diesem Beitrag möchte ich nun die Weiterführung des beiden Stücken gemeinsamen Anfangsakkordes im zweiten Stück „Caresse dansée“ verfolgen.

Beispiel 1: Auflösungsimplikationen zu Beginn von Skriabins „Caresse dansée“ op. 57 Nr. 2

Beispiel 1 zeigt die möglichen Implikationen zu Beginn von „Caresse dansée“ (HIER ANHÖREN). Während bei Deutung 1D die ersten beiden Akkorde denselben Grundton hätten, wird vor allem 1C dem Gefühl einer Art Quintfallsequenz zu Beginn des Stückes am ehesten gerecht. Dass ein Großteil des Stückes aus Varianten einer Quintfallsequenz besteht, ist am deutlichsten in den Takten 34–41 (Beispiel 2). Auch hier kommt gegen Ende – wie bei der barocken und klassischen Quintfallsequenz – ein verminderter Quintfall vor, nicht zuletzt, da die Sequenz sonst nicht bei C-Dur sondern bei Ces-Dur herauskäme. Zu Beginn des Stückes wechseln sich verminderte und reine Quintfälle ab, so dass sich über zwei Takte eine chromatische Abwärtsverschiebung ergibt.

Beispiel 2: T. 34–41 aus Skriabins „Caresse dansée“ op. 57 Nr. 2

Auch die variierte Wiederaufnahme des Anfangsakkordes in Takt 17/18 (Beispiel 3) macht die Deutung mit D als Grundton am wahrscheinlichsten, löst sich der Tritonus C-Fis (Septime und Terz des Akkordes) doch ganz klassisch in die Sexte H-G – also G-Dur – auf (Takt 19). Andererseits entsteht mit dem nächsten Akkord (Takt 20), der deutlich auf H aufgebaut ist, eine Terzbeziehung zum vorangegangenen G. Solche Terzbeziehung sind mindestens seit Beethoven und Schubert keine Seltenheit. Allerdings ließe sich auch hier ein anderes Quintverhältnis finden: so könnte man den Grundton in Takt 17/18 auch als Fis sehen, womit die Auflösung nach G (Takt 19) trugschlüssig wäre und im Anschluss die „richtige“ Auflösung nach H-Dur nachgereicht wird. Da Takte 21–24 die Takte 17–20 eine kleine Terz tiefer wiederholen, wären hier die Grundtöne entsprechend Es-Fes-As. Fasst man beide Interpretationen zusammen, ergeben sich verschachtelte Quintfälle (siehe die verschiedenfarbigen Pfeile in Beispiel 3).

Beispiel 3: Auflösungsimplikationen in T. 17–24 von Skriabins „Caresse dansée“ op. 57 Nr. 2

Das diesen Stücken zugrunde liegende Spiel mit einem meist diffusen Verlangen nach Auflösung lässt sich mit der Triebtheorie der gerade im Anfangsstadium sich befindlichen Psychoanalyse Sigmund Freuds in Beziehung setzen (siehe Smith 2010), was sich auch an Skriabins Aussage

„Wenn ich nichts verlange, bin ich nichts“

ablesen lässt (übersetztes Zitat aus de Schloezer 1987, zitiert nach Smith 2010).

Ich würde mich sehr freuen zu hören, was Sie von einer solchen Implikationsanalyse halten. Verdeutlicht das hier besprochene Stück („Caresse dansée“) das, was das erste („Désir“, zuvorbehandelt) nur vage impliziert? Kommentieren Sie unten und abonnieren gerne den Newsletter, wenn Sie zu neuen Blogbeiträgen benachrichtigt werden möchten!

Zitierte Literatur

Boris de Schloezer: Scriabin – Artist and Mystic (Oxford, 1987).

Kenneth Smith: „‘A Science of Tonal Love’? Drive and Desire in Twentieth-Century Harmony: the Erotics of Skryabin“, Music Analysis, 29 (2010), S. 234–63.

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